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Leseprobe [Reading Sample]
aus

Erinnerungen
deutsch-jüdischer Frauen

Autobiografisches 1900-1990


Eingeleitet und herausgegeben von

Andreas Lixl-Purcell





Kapitel 32. Rosemarie Silbermann
DENK' ICH AN DEUTSCHLAND 1972



Zum Text: Die Verfasserin wurde 1922 als jüngste Tochter der Berliner Künstlerfamilie Chempin geboren. Bis zum Ende der Weimarer Republik verbrachte sie mit ihren drei Geschwistern eine glückliche Jugend im Haus ihrer Eltern. Anbetrachts der faschistischen Brutalitäten entschloß sich die Familie ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung im November 1934 zur Flucht nach Palästina. Rosemarie überlebte den Krieg, heiratete in der neuen Heimat und brachte 1948 eine Tochter zur Welt. Im Jahr der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik entschloß sich die Verfasserin zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland zurückzukehren, um am Aufbau des neuen, sozialistischen Staates mitzuarbeiten. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in Berlin geriet Silbermann, wie viele andere jüdische Heimkehrer aus dem kapitalistischen Ausland, in den Strudel einer antisemitischen Kampagne, die, von Stalin selbst aus politischen Gründen angefacht, 1953 auch in der DDR einsetzte. Der Verfasserin wurde unter anderem vorgeworfen, im Interesse Israels staatsfeindliche Spionage zu betreiben. Zutiefst enttäuscht und betrübt über die fehlgeleitete Politik des Staates entschloß sich Silbermann zur neuerlichen Flucht aus Deutschland. Der folgende Beitrag reflektiert die kritische Wende ihrer Gedanken und Gefühlswelt anbetrachts des politischen Wechsels in der BRD Anfang der Siebziger Jahre. Silbermanns Aufzeichnungen entstanden im Herbst 1972 nach einem Besuch bei jungen Freunden und Kollegen in München.

[Text] "Denk' ich an Deutschland in der Nacht, so werd' ich um den Schlaf gebracht!" schrieb Heinrich Heine1 1848.

Auch ich, Rosemarie Silbermann, 1922 als Rosemarie Chempin in Berlin geboren, ward um den Schlaf gebracht, dacht ich an Deutschland in der Nacht.

Ich frage mich und auch heute, 1972, was ist das: Vaterland? Was ist das: Heimat? Wo ist meine Heimat? Wer oder was bestimmt, wo meine Heimat ist?

Mein Vater wurde in Berlin geboren, meine Großmutter wurde in Berlin geboren. Und davor waren auch die Vorfahren der meisten heutigen Berliner noch nicht in Berlin geboren.

Lange, lange beschäftigten mich diese Fragen. Erst mit Wut, da war ich 13, dann mit Haß, da war ich 20, dann mit Zuversicht, da war ich 25, und dann mit Enttäuschung und Trauer, da war ich 33. Und dann machte ich einen dicken Korken auf alles, was damit zusammenhing. Hab' keine Heimat! Basta!

Und jetzt flog der Korken heraus. Am 5. September 1972. Ich frage aufs neue: Was ist Heimat? Wo ist meine Heimat? Was ist das: Muttersprache? Was ist meine Muttersprache?

Ich will versuchen, chronologisch vorzugehen. Ich wurde also 1922 in Berlin geboren. 1922: Nachkriegsberlin. Keine gute Zeit, zur Welt zu kommen, aber dennoch: Rosemarie Chempin, Konfession: Mosaisch, wie es so schön in meinem Geburtsschein heißt. Vater: Mosaisch. Mutter: Mosaisch. Nationalität: Deutsch. Sprache: Deutsch. Kultur: Deutsch. Eine Familie von Künstlern. Vater Schauspieler, Doktor der Kunsthistorik. Mutter Schauspielerin.

Familie Chempin: eine alte Berliner Familie. Die Mehrzahl geboren in der Luisenstraße in Berlin. Alle mit dem Ziel, ihr Teil für eine schönere bessere Welt, ein schöneres besseres Deutschland beizutragen. Jeder auf seine Art. Der eine durch die Kunst der Vermittlung des Schönen, durch Person, Verstand und Sprache. Der andere durch die Musik und wieder ein anderer durch die Weiterentwicklung der Wissenschaft.

Es gab auch Kaufleute unter ihnen, wie in jeder gutbürgerlichen Familie im damaligen Deutschland. Es gab keine Arbeiter unter ihnen, das kam später; aber die Arbeiterschaft spielte eine große Rolle in den Gedanken, Wünschen und Zielen eines ansehnlichen Teils der Familie. Ich wuchs also auf in einer ganz normalen, kulturell auf einem hohen Stand stehenden deutschen Familie. Ich lernte früh, die Schönheit der Natur mit offenen Augen und offenem Herzen zu sehen und in mich aufzunehmen. Lernte, daß der Wald und die Seen meine Heimat sind. Für alle da, die ein Auge und ein Herz dafür haben. Lernte, daß die Sprachen im allgemeinen und die deutsche Sprache im besonderen ein Werkzeug des Ausdrucks und der Verständigung ist.

Wir waren vier Kinder zu Hause. Drei Jungen und ich, die Jüngste. Als ich 6 Jahre alt war, saßen wir um meine Großmutter geschart und sie las uns "Die Räuber" von Schiller und "Egmont" von Goethe vor. Später lasen wir mit verteilten Rollen. Es gab eine riesige Bibliothek. Der Zugang zu ihr war frei. Wir Geschwister - und ich ganz besonders - machten reichlich Gebrauch davon. Wir lasen Wassermanns "Das Gänsemännchen", Hesses "Narziß und Goldmund", Heinrich Mann, Thomas Mann natürlich, die "Buddenbrooks" und den "Zauberberg", den "Schimmelreiter" von Storm und so weiter und so fort. Die Sprache war uns und mir im besonderen ein Vergnügen. Es war eine innere Beziehung zur Sprache, zur Kultur und zur Natur. [...]

Ich liebte das Riesengebirge, die Spree, die Havel, den Thüringer Wald, die Nordsee, die Ostsee und all das, was ich nur aus den Erzählungen meiner Großmutter wußte, die Deutschland sehr genau kannte und nicht aufhörte, uns immer wieder von allen Schönheiten Deutschlands und der Welt zu erzählen. Ich war Bestandteil Deutschlands. Deutschland gehörte mir und den anderen.

Silbermann floh 1934 mit ihrer Familie von Nazi-Deutschland nach Palästina. Sie kehrte nach Kriegsende voller Hoffnung mit ihrer Tochter nach Berlin zurück, erkannte jedoch schnell, daß man sie wegen ihrer Kontakte zum kapitalistischen Ausland in der DDR politisch kalt stellen wollte. Silbermann verließ daraufhin im Herbst 1954 Deutschland zum zweitenmal.

Wir waren also wieder auf der Flucht unter Zurücklassung all unserer Sachen. Zum zweiten Mal in unserem Leben. Nur diesmal nicht wieder ins Ungewisse. Der Übergang nach West-Berlin war leicht damals, aber fiel uns innerlich schwer, sehr schwer. Vieles, woran ich geglaubt hatte, war für mich zerschellt. Und diesmal waren es nicht die Feinde, sondern die Freunde, die mich zur Ungewollten machten. Es gab deshalb nur eine Antwort: zurück nach Israel.

Der Tag unseres Abflugs vom Tempelhofer Feld in Berlin war eine trüber, trauriger Tag. Da stand ich also nach genau 20 Jahren und verließ zum zweiten Mal Berlin, wo ich geboren wurde und wo ich glaubte hinzugehören. Enttäuschung und Trauer war, was ich empfand. Ich hatte keine Theorie mehr, denn meine stimmte nicht mehr. Eins stimmte, ob ich wollte oder nicht: Ich war Jüdin. Zwar war meine Muttersprache deutsch, aber die Kluft zu Deutschland war unüberbrückbar. Man hatte es mir deutlich gemacht, daß ich nicht dazugehörte. Wo gehörte ich aber hin? Auf die Judenbank? In Deutschland zu bleiben wäre natürlich theoretisch möglich gewesen, aber es ging über meine seelischen Kräfte. Ich mußte Abstand gewinnen.

Ich verstopfte den Schmerz, so wie man eine Flasche verstopft, mit einem dicken Korken.

Ich kam also nach genau 20 Jahren im November 1954 zum zweiten Mal als Emigrantin aus Deutschland nach Israel. Mit dem Unterschied, daß ich die Sitten und Gebräuche kannte und ein Kind hatte, für das ich verantwortlich war. Ich war bitter enttäuscht. Wir fingen also von vorne an. Unsere alten Freunde sagten schadenfroh: "Wir haben es euch ja vorher gesagt, Juden werden niemals von Deutschen als Deutsche anerkannt werden. Im Westen versucht man das schlechte Gewissen mit Geld zu beruhigen, und im Osten findet man politische Ausflüchte." Ich hatte darauf nichts mehr zu erwidern und schwieg. Ich arbeitete, lernte, baute mir eine neue Existenz auf und verbannte alle Gedanken an Deutschland. Es ging soweit, daß ich aufhörte, deutsche Bücher zu lesen und deutsch zu sprechen. Ich begann, mich damit abzufinden, daß ich eben keine Heimat hatte, daß ich sozusagen als freier Mensch lebte. Mein Kind fühlte sich sehr schnell wieder daheim und war glücklich und zufrieden. Ich redete mir ein, daß Deutschland für mich nicht mehr existierte. Ich war inzwischen beruflich erfolgreich als Sozialarbeiterin und Erziehungsberaterin. Ich packte die sozialen Probleme jetzt von einer anderen, von der praktischen Seite her an und wollte von Politik nichts mehr wissen. Immer wenn die Rede auf Deutschland kam, Ost oder West, schwieg ich. Zehn Jahre lang beteiligte ich mich nicht am öffentlichen Leben, so wie ich es in der Vergangenheit gewohnt gewesen war, bis ich genug Kräfte gesammelt hatte, auf andere Art meinen Teil für eine bessere Welt beizutragen. Ich begann wieder an Gerechtigkeit zu glauben und an das Recht, wie ein Mensch zu leben, ganz egal wo. Ich stürzte mich auf die englische Sprache, die ich recht gut beherrsche. Zählen tat ich weiter auf Deutsch, ganz unwillkürlich.

Ich glaubte meinen Weg gefunden zu haben, auch ohne Heimat, oder das, was ich unter Heimat verstand. Manchmal beneidete ich im stillen meine Tochter, die das Problem der Entwurzelung nicht kannte und hoffentlich auch nie kennenlernen wird.

Aber manchmal, wenn ich ganz alleine mit mir war, dann übermannte es mich und die Trauer und die Enttäuschung wollten wieder hochkommen. Ich war hart mit mir selbst, und mit Deutschland. Ich ließ es nicht zu, Trauer und Enttäuschung hochkommen zu lassen. Ich verfolgte den Eichmann-Prozeß2. Ich las Zeitungen und hörte Nachrichten. Keiner war schuld. Auch Eichmann hatte Befehle bekommen. Alle hatten sie Befehle bekommen. Keiner war bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen. In (West) Deutschland sprach man von Zurückeroberung der verlorenen Ostgebiete und bereitete einen neuen Krieg vor: den kalten Krieg. Man beschuldigte Gott und die Welt und wälzte alle Schuld von sich ab.

Ich verfolgte auch die Tatsache, daß die junge Generation Deutschlands aufmuckte, sei es als Linksradikale oder als Hippies. Ich verfolgte auch die Reaktion auf dieses Aufmucken. Sie schien mir nicht anders als je. Mit Drohungen, Wasserwerfern und Sanktionen suchte man die Rebellen zum Schweigen zu bringen. An der Spitze der Bundesregierung (BRD) standen zum Teil alte Bekannte mit nicht ganz reiner Weste. Ich verfolgte den Aufstieg Willy Brandts.3 Er war der einzige, zu dem wir Zutrauen hatten. Ich verfolgte auch, wie man ihm Steine in den Weg legte und dachte mir mein Teil dabei.

Deutschland tat mir immer noch weh. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich konnte es nicht immer mit Erfolg unterdrücken. Je mehr Zeit verging, um so mehr spürte ich das innere Entwurzeltsein. Das Nirgendshingehören. Mit niemand außer mir selbst sprach ich darüber. Niemand ahnte, daß es mich noch bewegte. Im Sommer 1971 traf ich auf einem Internationalen Psychologen-Kongreß in Israel ein paar Deutsche. Ich tat, als ob ich nicht deutsch sprechen könnte. Ich ging ihnen aus dem Weg, so weit ich nur konnte. Und sprach mit ihnen nur Englisch. Die ältere Generation machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck. Aber da war auch die jüngere Generation, die wohl meinen deutschen Akzent erkannte. Sie forderte mich zur Diskussion heraus, erst auf englisch, dann bald auf deutsch. Ich nahm Stellung. Ich zeigte nicht meine wahre Einstellung, denn ich erlaubte mir nicht, den Korken aufzumachen. Ich griff an. Sprach von Allgemeinschuld, von Auschwitz und Mauthausen und davon, daß Deutschland wenig dazugelernt hat, was menschliche Beziehungen und Einstellungen zu Andersgearteten anbetrifft. Alle Wut und Verzweiflung, Bitterkeit und Enttäuschung, die mir durch Deutschland zugefügt wurden, kamen heraus. Aggressiv und unversöhnlich. Es war Selbstschutz. Man antwortete mir: "Was willst du von uns, den in den vierziger Jahren Geborenen? Wir haben nichts mit der Vergangenheit zu tun. Wir wollen ein anderes Deutschland. Wir sind anders. Wir sind ein anderes Deutschland." Ich diskutierte scharf, ich bekundete mein Mißtrauen. Ich wußte, daß ich unfair diskutierte. Aber war man mit mir fair gewesen? Ich wußte, daß ich keine Chance gab. Hatte man mir eine Chance gegeben in Deutschland? Ich glaubte, in den langen Jahren mit dem Problem Deutschland fertig geworden zu sein. Ich glaubte nicht mehr dazuzugehören. Die jungen Deutschen, die mit mir diskutierten, gaben nicht auf. Sie wollten verstehen. Dieses ehrliche Verstehenwollen rührte mich. Ich war bereit, ihnen eine Chance zu geben. Mit sehr viel Vorbehalten und Mißtrauen, aber eine Chance wollte ich ihnen geben. Ich fühlte, daß sie es ernst meinten.

Ein Jahr verging, ich wollte mich mit den Dingen nicht beschäftigen. Ich versprach, mich zu melden, wenn ich in Europa bin. Eines Tages im Sommer 1972 erschienen die, mit denen ich diskutiert hatte, bei mir in Israel, um die Diskussion fortzusetzen. Es war das Jahr der Vorbereitungen zur Olympiade in München, der ich sehr skeptisch gegenüberstand. Ich hatte die von 1936 noch gut in Erinnerung. Selbstherrlichkeit, Überheblichkeit und Angeberei. Was hatten wir dort zu suchen? Es gab heiße Diskussionen in Israel, ob man teilnehmen sollte oder nicht. In dieser Situation kamen meine jungen Debattierer aus Deutschland nach Israel. Ich nahm sie freundlich auf. Ich wollte ihnen eine Chance geben. Die Diskussion ging weiter.

Einen Monat zuvor war Mikis Theodorakis, der griechische Freiheitskämpfer, in Israel gewesen und brachte unter anderem die Ballade von Mauthausen mit, die ich auf Deutsch erstanden hatte. Ich spielte die Ballade meinen jungen Freunden aus Deutschland vor. Es war schwer, etwas darauf zu erwidern. Sie sagten, das war schrecklich, aber es ist vorbei. Wir werden es nicht mehr zulassen. Ich blieb skeptisch. Ich versuchte zu erklären, warum ich skeptisch war. Und dann hatte eine von ihnen ein Erlebnis am Strand von Tel Aviv. Ein junger Bursche sprach sie an, wie junge Burschen es auf der ganzen Welt tun. "Woher bist du?" "From Germany." Er drehte sich um und ging. Sie war getroffen, wütend, traurig. Dann setzte sich eine Frau neben sie. Die Frau zog sich aus. Sie hatte eine Nummer im Arm4 eingraviert. Da verstand sie plötzlich, was ich die ganze Zeit zu erklären versuchte. Sie sagte mir: "Solange es noch Menschen mit Nummern im Arm gibt, die von Deutschen in den Arm gebrannt wurden, wird es schwer sein, daß man Deutschen vertraut." Sie sagte, daß sie etwas gegen den Haß tun wolle, daß der gegenseitige Haß und das gegenseitige Mißtrauen die größten Feinde der Menschheit und des Fortschritts seien. Aber was kann man gegen Haß und Mißtrauen tun? Um Verständnis werben? Versuchen, selbst zu verstehen? Ich hatte das Gefühl, daß meine jungen Freunde aus Deutschland es ernst meinten. Aber ich blieb skeptisch. Ich sah, was meine Generation in Deutschland tat, um Haß und Mißtrauen zu beseitigen. Es war sehr wenig, was ich sah.

Im Monat August fuhr ich zum ersten Mal seit meiner Emigration wieder nach Deutschland (BRD). Ich wollte mich selbst überzeugen, wo Deutschland im Jahre 1972 stand. Ich suchte einen alten Klassenkameraden auf, der im Ruhrgebiet lebte. Er war dabei, als man im Jahre 1933 (unseren Freund) Walter Pätznick in Handschellen abführte. Er hatte meine Adresse aufgestöbert und sich mit mir schon vor einiger Zeit in Verbindung gesetzt. Was ich im Ruhrgebiet sah, bestätigte meine Einstellung in gewissem Sinne. Ich sprach mit den verschiedensten Leuten. In Kneipen, in Kaffeehäusern und Familien. Ich diskutierte aggressiv und hart. Nahm mir kein Blatt vor den Mund. Meine Generation und Ältere versuchten Worte der Versöhnung, aber der Haß, das Mißtrauen und das Sich-nicht-identifizieren-wollen standen hinter den Worten.

Alle glaubten, sich bei mir für das Geschehene entschuldigen zu müssen, und damit sei der Fall erledigt. Sie vergaßen nie hinzuzusetzen, daß sie ja nichts gewußt hätten, und daß es eigentlich nicht ihre Schuld sei, die sie jetzt begleichen müßten. Und jedesmal wieder kam eine Frage, die mich in Wut versetzte. Die Frage: Woher kannst du so gut deutsch? Ja, woher wohl?

Wußten sie es nicht? Jawohl, ich konnte gut deutsch. Es war ja sozusagen meine Muttersprache. Aber auf diese Idee kam kaum einer. Man ging an dem Problem vorbei, versuchte es zuzukleistern. Ich sprach auch mit jungen Leuten. Ich sah mit Freunden eine große Diskrepanz. Die jungen Leute waren realistisch, gut orientiert und ich spürte in keiner Weise Mißtrauen, Haß oder billige Entschuldigungen. Ich empfand dasselbe ehrliche, aufrichtige Verstehen-wollen, Sich-mit-den-Dingen-auseinandersetzen-wollen wie bei meinen jungen Kollegen, die ich in Israel sprach. Es war ein Hoffnungsschimmer. Eine Möglichkeit. Ich hatte in Israel mit meinen jungen Freunden verabredet, daß wir uns im September in Deutschland treffen würden. Ich wußte nicht, ob ich es wirklich wollte. Ich sah im Fernsehen die Eröffnung der Olympiade in München. Ich war überrascht von der angenehmen Atmosphäre, die deutlich zu spüren war. Nichts von der zackigen überheblichen Angeberei, die ich erwartet hatte. Ich flog am 30. August von Düsseldorf über München nach Innsbruck, wo ich mit meinen Eltern, die in Amerika leben, verabredet war. Ich hatte in München vier Stunden Aufenthalt. Ich war erstaunt. Ich spürte die angenehme menschliche Atmosphäre. Sollte ich mich geirrt haben? Sollte es menschlicher geworden sein? Es war ein erstaunliches Erlebnis, das freundliche, farbenprächtige München. Die Stadt, in der vieles seinen Anfang genommen hatte. Die bellenden Verleumdungen Hitlers, die gröhlenden, jüdische Schaufenster einschlagenden Braunhemden (SA) und die marschierenden Stiefel, die später halb Europa zertraten. So hatte ich es von früher in Erinnerung.

Etwas regte sich in mir in den zwei Wochen, die ich in Deutschland verbracht hatte, als mich die Sprache, die ich liebte, aber nicht sprechen wollte, umgab. Ich war verwirrt. Ich wehrte mich immer noch, innerlich Stellung zu nehmen. Aber ich merkte, daß das Eis zu schmelzen begann.

Und dann kam der 5. September 1972. Ich erlebte ihn im Kurort Igls oberhalb Innsbrucks. Ich drehte früh das Radio auf. Der Ansager sprach mit Erschütterung in der Stimme vom Mordanschlag arabischer Terroristen auf die israelische Mannschaft im Olympiadorf in München. Ich war entsetzt, aber spürte beim Sprecher Anteilnahme und Ablehnung des Anschlages auf die jüdischen Sportler.

Ich ging hinaus auf die Straße. Man kannte mich dort, da ich nicht zum ersten Male hier war. Solch eine Anteilnahme, die mir von allen Seiten entgegengebracht wurde, hatte ich noch nie im deutschsprachigen Europa gefühlt.

Ich beschloß, meine jungen Freunde in München anzurufen - wie verabredet. Ich hatte das Empfinden, daß es angesichts der Tatsachen nicht fair gewesen wäre, nicht anzurufen. Wir verabredeten uns für den 7. September. Man wollte mich mit dem Auto von Innsbruck abholen. Sie wußten noch nichts vom Geschehen, und ich sagte nichts. In den folgenden zwei Tagen, vom 5. bis zum 7. September hingen wir alle am Radio und vor dem Fernseher. Das Furchtbare geschah. Die israelische Mannschaft wurde bestialisch ermordet. Zwölf Tote waren zu beklagen. Unter ihnen ein deutscher Polizist. Trotz des schrecklichen, tragischen Geschehens hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, daß Deutsche auch menschlich handeln können. Ich sah die Fernsehsendung am 6. September abends, direkt übertragen vom Olympiastadion. Ich spürte in den Worten der Veranstalter wahre Anteilnahme und Verabscheuung des Geschehens. Mehr noch, ich spürte, wie man alles tun wollte, um diesen Mord zu verhindern. Dann kam die Nacht vom 6. zum 7. September. Voll Hoffnung erst und voll Entsetzen über den schrecklichen Ausgang später. Ich hörte die Übertragung der Trauerversammlung. Ich hörte die Reden Brandts, Heinemanns und Genschers. Ich sah die deutschen Sportler mit Trauerflor am Arm und traurigen Gesichtern. Es war ein schreckliches Geschehen, ein verabscheuungswürdiger Mord, und es geschah auf deutschem Boden, in München. Aber ich sah nicht nur die schreckliche Tat, ich sah auch die Reaktion der Deutschen. Und zum ersten Mal begann ich wieder an Deutschland anders als bisher zu denken. Ich war bereit zu hören, in mich aufzunehmen, eine wirkliche Chance zu geben. Vielleicht ließ sich die entstandene Kluft überbrücken.

Als ich mich wie verabredet mit meinen jungen Kollegen in Innsbruck traf, waren die ersten Worte voll Trauer und Entsetzen: "Es ist schrecklich, was geschah. Es ist nicht wieder gutzumachen, und es ist noch schrecklicher, daß es auf deutschem Boden geschah. Wieder wurden Juden, weil sie Juden waren, ermordet. Diesmal nicht von uns Deutschen, aber als unsere Gäste, und wir hatten es nicht verhindern können." Ich spürte aus diesen Worten wieder die wirkliche innere Anteilnahme, die mir in den letzten Tagen von überall entgegenströmte.

Ich war bereit, nach Deutschland mitzufahren. Ich fuhr das erste Mal nach Berchtesgaden (Bayern), da dort einer meiner jungen Kollegen wohnte. Berchtesgaden war ein rotes Tuch für jeden Antifaschisten und für jeden Juden. Ich hatte sehr gemischte Gefühle, als wir in Berchtesgaden einfuhren. Hier war der Adlerhorst. Von hier hatte Hitler seine Fäden gesponnen. Selbst die hinreißende Schönheit der Umgebung konnte meine Gefühle nicht eindämmen. Da war ich also in Berchtesgaden, einem der schönsten Plätze Deutschlands, aber für mich lastete der Schatten des Geiers vom Adlerhorst über der Landschaft. Es war eine gewisse Beruhigung zu sehen, daß außer dem Teehaus und einer aufgebauten Anlage im Sandkasten nichts Sichtbares an den Adlerhorst erinnerte. Nach meinem Geschmack war auch der Sandkasten überflüssig. Mich interessierte nicht, wie es damals da oben aussah. Ich wollte es gar nicht wissen.

Es folgten endlose Gespräche. Ernste menschliche Gespräche, überschattet vom Geschehen in München. Wieder spürte ich aus diesen Gesprächen den Ernst und die Wahrhaftigkeit, mit denen man versuchte, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Es half mir, die Schatten des Geiers von Berchtesgaden zu vertreiben. Hier fragte man mich nicht, woher ich so gut deutsch kann. Im Gegenteil, ich mußte oft englische Worte benutzen, sagte, daß mir deutsche Worte fehlen. Aber der Ernst der Gespräche gab mir den Mut, Worte, die mir fehlten, zu suchen. Es ging und ich bemerkte, daß ich die deutsche Sprache gut beherrschte. Daß ich mich in ihr ausdrücken konnte, wie in keiner anderen Sprache. Es war meine Muttersprache, und sie begann zu fließen, zu sprudeln und zu strömen. Ich fühlte wieder die innere Beziehung zur Sprache, die mir abhanden gekommen war oder mit Gewalt von mir unterdrückt worden war als Rache auf die Tatsache, daß ich auf die Judenbank gesetzt worden war. Ich empfand mehr und mehr, was mich mit Deutschland verband und weniger, was mich von Deutschland trennte.

Es tauchte die Frage auf, die ich am Anfang dieses Schreibens stellte: Wer oder was bestimmt, wo man hingehört? Kann ein einzelner, eine Partei oder eine Regierung dem einzelnen die Heimat, in der er geboren ist, oder die Sprache, die seine Muttersprache ist, absprechen? Diese Fragen brachten mich dazu, mehr über das Problem nachzudenken. Ich konnte wieder über Deutschland nachdenken, ohne um den Schlaf gebracht zu werden. Der Korken, den ich auf die Gedanken und Gefühle, was Deutschland anbetraf, gesetzt hatte, war herausgesprungen. Ich hatte eine gemeinsame Sprache mit der jungen Generation Deutschlands gefunden. Aber wie war es mit der anderen? Mit meiner Generation? Wie würde sich Frau Schmidt oder Frau Müller als Nachbarin mir gegenüber verhalten? Wie würde ich diese oder jene dumme Bemerkung ertragen können? Auch darüber sprachen wir.

In der Ballade von Mikis Theodorakis und Jakobus Kampanelli heißt es:

Wenn dieser Krieg einmal vorbei ist,
Dann führe ich dich auf den Wachtturm
Und küsse dich auf offenem Platze.
Dann können wir endlich friedlich sterben,
Wo Mord und Tod uns nur erwarteten
Und wo das Gas steht, blühen Rosen.

Ich woltle nicht, daß Rosen neben dem Gasofen wachsen. Es scheint mir eine Verniedlichung. Der Gasofen soll ein Mahnmal bleiben. Frau Schmidt würde versuchen, ihn mit Rosen zuzudecken, damit man vergißt. Meine jungen Freunde waren anderer Ansicht. Sie sagten, daß die Rosen neben dem Gasofen in Mauthausen auch bedeuten könnten, daß das Leben und die Gerechtigkeit stärker sind als organisierter Mord und Tod. Ja, vielleicht konnte man es auch so sehen.

Die nächste Frage, die ich stellte, war: Was seid ihr zu tun bereit? Inwieweit seid ihr bereit, euch für die Gerechtigkeit einzusetzen? Man würde es bei den kommenden Wahlen am 19. November sehen. Ich verließ Deutschland diesmal mit ganz neuen Gedanken und Gefühlen. Ich war herausgetreten aus meiner Ecke von Enttäuschung, Wut und Bitternis. Ich hatte das Gefühl, daß das Gespräch fortgesetzt werden muß; daß ich etwas zu sagen hatte und daß es etwas zu hören gab.

Nach meiner Rückkehr am Ende des Sommers nach Israel nahm die Unterhaltung ihre Fortsetzung. Am 20. November bekam ich eine neue Bestätigung, daß etwas anders geworden ist. Der große Wahlsieg Willy Brandts bezeugte das ganz offensichtlich. Es gab vielleicht doch noch einen Weg, meinen Frieden mit der Heimat zu schließen, aber der Weg dorthin war nicht ein Vertuschen oder Verkleistern der Tatsachen, sondern das offene Gespräch, so wie ich es geführt hatte. Der Wunsch zu diesem offenen Gespräch war der Anlaß, der mich zum Schreiben bewegte und mir den Mut gab, mich direkt an Deutschland zu wenden mit meinen Fragen, Zweifeln und Erkenntnissen.

Es mag ein Beitrag sein für ein besseres Verständnis. Mir gibt es ein Gefühl der Partnerschaft und vielleicht im Lauf der Zeit auch der Zugehörigkeit. Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Das Ausschlaggebende ist, was man daraus macht.

Das heutige Deutschland gibt Hoffnung, daran zu glauben, daß sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Das heutige Deutschland gibt Hoffnung auf neue Möglichkeiten, an denen ich vielleicht sogar teilhaben könnte als Deutsche.


Anmerkungen


1 Heinrich Heine (1797-1856), deutscher Dichter und Publizist, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg, lebte seit 1831 im Exil in Paris.

2 Adolf Eichmann (1906-1962) leitete ab 1941 die Deportation und Vernichtung der Juden im Nazi-Holocaust. Er wurde 1962 in Israel zum Tode verurteilt und hingerichtet.

3 Willy Brandt (geb. 1913) war 1957-1966 regierender Bürgermeister von Berlin (West), seit 1964 Vorsitzender der SPD und von 1969-1974 Bundeskanzler der BRD. Er bemühte sich um einen Ausgleich mit Polen (Ostpolitik) und erhielt dafür 1971 den Friedensnobelpreis.

4 Nummer im Arm. Hinweis auf die Tatsache, daß allen Häftlingen in Mauthausen, Auschwitz und anderen Nazi-Konzentrations- und Vernichtungslagern von der SS Nummern in den Arm tätowiert wurden. Überlebende des Holocausts trugen zeitlebens die Kennzeichen dieser Tätowierungen.

Quelle: Rosemarie Silbermann, Fragen an Deutschland (1972). Manuskript. Vgl. dazu Blick zurück ohne Haß. Juden aus Israel erinnern sich an Deutschland. Hrsg. von Michael Lüders. Köln: Bund-Verlag, 1981.


Ende der Leseprobe aus "Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900-1990". Andreas Lixl-Purcell (Hresg.). Leipzig: Reclam, 1992, 1993, Seite 409-422.


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