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Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen

1900-1990



Herausgegeben von


Andreas Lixl-Purcell



Reclam-Verlag Leipzig
Reclam Bibliothek Nr. 1423

Belletristik mit 22 Abbildungen

Leipzig 1992, 1993
ISBN 3-379-01423-0




EINLEITUNG


1. Textauswahl

Die Beiträge dieses Buches beschreiben die Erinnerungen dreier Generationen deutscher Jüdinnen aus dem 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen Autoren aus deutschsprachigen Ländern, deren Autobiografien detailierte Bilder aus der Sozialgeschichte deutsch-jüdischer Frauen liefern. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Texte bisher noch nicht veröffentlicht worden. Die Sammlung versetzt den Leser in das Leben von jüngeren und älteren, bekannten und unbekannten, verheirateten und alleinstehenden Jüdinnen aus vielerlei Berufen, sozialen Schichten und politischen Gruppierungen. Der beschriebene Alltag vermittelt ein facettenreiches Mosaik persönlicher, sozialer und politischer Erfahrungen, die zusammen den widersprüchlichen Verlauf deutsch-jüdischer Geschichte beleuchten.

Die Auswahl dieser vergessenen autobiographischen Zeugnisse erfolgte mit der Absicht, nachgeborenen Generationen Zugang zu verschaffen zur Begriffs- und Erfahrungswelt jüdischen Frauen im deutschsprachigen Raum. Jugenderinnerungen, Familiengeschichten und Alltagserlebnisse kommen dabei ebenso zur Sprache wie Berufserfahrungen und feministische Betrachtungen. Bei der Zusammenstellung der Texte wurde versucht, den Verlauf deutsch-jüdischer Geschichte chronologisch darzustellen, die Divergenz sozialer und politischer Gruppierungen zu dokumentieren, und die thematischen Schwerpunkte der Frauenmemoiren vorzustellen.

Der Aufbau des Buches setzt Akzente, die bewußt auf die Interessen heutiger Leser eingehen. Die Verfasserinnen berichten vom Taten- und Freiheitsdrang junger Frauen um die Jahrhundertwende, von einflußreichen Politikerinnen wie Bertha Pappenheim und Rosa Luxemburg, von der Arbeit der Frauenrechtsbewegung, und vom Aufschwung jüdischen Lebens in den deutschen Großstädten. Auch von der Verfolgung und Vertreibung jüdischer Frauen aus Deutschland ist die Rede, ebenso vom Terror in den Nazi-Vernichtungslagern und vom Wiederaufbau nach dem Krieg. Dabei greift der autobiografische Horizont der Kapitel über zentrale Erlebnisse wie Holocaust und Exil weit hinaus und rückt sowohl die Zeitspannen vor und nach dem Faschismus ins literarische Blickfeld.

Da die Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen besonders den Bezug zur Sozialgeschichte hervorkehren, erstreckt sich im ersten Teil des Buches der autobiografische Rahmen bis zum Kaiserreich zurück. Teil II behandelt das Leben in der Weimarer Republik angefangen mit der Novemberrevolution 1918 bis zu Hitlers Machtergreifung 1933. Die Kapitel in Teil III, IV und V berichten über die Zeit des Dritten Reiches und gruppieren sich um die Themenkreise "Verfolgung und Vertreibung", "Erinnerungen ans Exil" und "Holocaust". Teil VI am Ende des Buches stellt unter dem Titel "Autobiographisches aus Ost und West" neuere Texte aus der Phase 1945-1990 vor. Die Öffnung des geschichtlichen Horizonts zielt darauf ab, kulturpolitische Zusammenhänge zu verdeutlichen, und die Erfahrungen dreier Generationen deutscher Jüdinnen möglichst differenziert darzustellen. Da in fast allen Autobiografien die Jahrzehnte vor und nach dem Nationalsozialismus gesondert behandelt werden, spiegelt die Gliederung des Buches zugleich die Erinnerungsmuster deutsch-jüdischer Memoirenliteratur.

Aus dieser Optik ergeben sich gemeinsame Nenner, die über das betont Autobiografische und Historische der Texte hinausweisen, und den Bezug zur unmittelbaren Gegenwart betonen. Das übergreifende Thema aller Beiträge ist das Nachdenken über die Heimat und die Rolle deutsch-jüdischer Frauen in der Geschichte. Die Kapitel verleihen Einsicht in individuelle Schicksale, die nicht nur außergewöhnlich wertvolle Erfahrungen vermitteln, sondern auch politische Lernprozesse darstellen und somit eine Brücke schlagen zum zerstörten Erbe des deutschen Judentums. Die Anthologie zielt darauf ab, die Brisanz dieser Memoiren einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, wozu besonders die jüngere Generation, Juden, Frauen, Germanisten, Historiker, politisch Engagierte und all diejenigen Leser zählen, die sich für deutsche Memoirenliteratur interessieren und von den Verfasserinnen wertvolle Anregungen zur eigenen geschichtlichen Ortsbestimmung erwarten.

Der Großteil der im Buch versammelten Autoren gehört den zwei Generationen nach der Jahrhundertwende an. Während die Frauen älterer Jahrgänge vor allem vom wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung ihrer Familien im Kaiserreich berichteten, standen die nach 1900 Geborenen im Mittelpunkt der geo-politischen Umwälzungen, die das europäische Judentum von Grund auf verändern sollten. Es waren die Frauen dieser Generation, die in der Blüte ihrer Jahre im Holocaust ums Leben kamen oder sich sich nach der Flucht aus Nazi-Deutschland in der Emigration eine neue Existenz aufbauen mußten. Sie waren es zumeist, die später im Exilland ihre Lebensgeschichten niederschrieben, um ihren Kindern und Enkeln Zeugnis zu geben von einer Welt, deren Kultur und Lebenszusammenhang zwischen 1933 und 1945 vernichtet wurden.

Die Frauen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik schrieben mehr Autobiografien, Tagebücher und Memoiren als alle anderen Generationen deutscher Jüdinnen davor. Die Erinnerungsarbeit entsprang dem Wunsch, als Überlebende Bericht abzustatten über den Ablauf deutsch-jüdischer Geschichte. Die Autobiografien vermitteln nicht nur die individuellen Schicksale der Verfasserinnen, sondern sind vor allem im Sinne einer kollektiven Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Es kann nicht verwundern, daß gerade jene Generationen, die im Mittelpunkt des unerhörten geschichtlichen Geschehens standen, zu ihren Erfahrungen Stellung nehmen wollte.

Dieses Buch will dazu beitragen, der Leserschaft ein Bild zu verschaffen von der Qualität und Vielschichtigkeit der Autobiografik jüdischer Frauen aus Deutschland. Bei der Zusammenstellung der Dokumentation wurde darauf geachtet, das breite Spektrum der Memoirenliteratur deutscher Jüdinnen repräsentativ zu erfassen und Autoren aus möglichst vielen geografischen Regionen und sozialen Schichten vorzustellen. Dabei zeigte es sich, daß weitaus mehr Lebensberichte aus den Großstädten als aus der Provinz vorlagen. Deutlich bemerkbar war auch ein Mangel an Autobiografien von sozialistischen Arbeiterinnen und von Frauen aus dem Ostjudentum. Beides verweist auf die Ungleichzeitigkeit der sozialen und kulturpolitischen Entwicklungen in Stadt und Land hin.

Die meisten Autorinnen kommen aus bürgerlichen Familien. Dies erklärt die mitunter deutliche Distanz zum orthodoxen Judentum, zum Zionismus und zum Sozialismus, die in vielen Selbstdarstellungen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik spürbar wird. Da die Familien der Verfasserinnen meist aus Großstädten kamen, jüdischen Reformgemeinden angehörten, und sich bewußt zum Deutschtum bekannten, standen sie separatistischen und revolutionären Bewegungen gleichermaßen kritisch gegenüber. Weil Memoiren und Autobiografien zudem ein typisches Alters-Genre sind, zeigte sich bei einigen Autoren auch ein Hang zur Romantisierung der Jugend im Kaiserreich und in der Republik. Wie "nebelhafte Märchenbilder" (Friedrichs, Kapitel 10) taucht die Erinnerungen aus der Kindheit auf und stehen im krassen Gegensatz zur schroffen Welt der Erwachsenen. Hinter der Koppelung der Perspektiven verbirgt sich das tiefe Trauma der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens im Faschismus. Anstatt die Gedanken an das erlittene Unrecht wachzurufen, verbinden viele Memoirenschreiber die scheinbar intakte Welt ihrer Kindheitserinnerungen mit dem Leben in der Gegenwart, um in der Montage der Bilder den Bruch in der Geschichte ihres Lebens anzudeuten. Bei älteren Texten ließ sich auch eine größere Streuung autobiografischer Themenkreise beobachten als in solchen Memoiren, die über den Ersten Weltkrieg, die Zeit des Dritten Reiches und die Periode des Kalten Krieges berichten. Dies mag damit zu begründen sein, daß in Zeiten sozialer Stabilität und Sicherheit der Erinnerungshorizont weiter ausschweift als in Zeiten persönlicher und politischer Krisen. Dies bewirkte eine leichte Verschiebung der autobiografischen Schwerpunkte und führte zu einer etwas idealisierten Sicht auf den Alltag jüdischer Frauen in Deutschland vor dem Faschismus.

Die hier veröffentlichten autobiografischen Zeugnisse stammen aus Nachlässen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Israel, Ekuador, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Australien, und den Vereinigten Staaten. Mit Ausnahme von ein paar älteren Texten aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik entstanden die meisten Memoiren in der Zeitspanne zwischen 1955 und 1980. Von den 33 im Buch vertretenen Verfasserinnen beteiligten sich acht Autoren persönlich an der Auswahl und Edition ihrer Kapitel (1, 3, 9, 10, 13, 20, 30, 33) oder schrieben eigens Arbeiten für diese Anthologie. Ihnen sei ganz besonders gedankt: Frau Prive Friedjung, Nellie H. Friedrichs, Salomea Genin, Else Gerstel, Ruth Glaser, Susi Lewinsky, Senta Meyer-Gerstein und Charlotte Pick. Die Vorlagen zu den Kapiteln von Frau Elisabeth Bamberger (16), Margot Bloch-Wresinski (11), Mathilde Jacob (6) und Käthe Mendels (5) kommen aus privaten Sammlungen. Dank für ihre Hilfe bei der Veröffentlichung der Manuskripte gilt in erster Linie Herrn Frank J. Bamberger, Dr. Sibylle Quack, Frau Wilma Reich und Frau Erica Schwarz in Sydney, Australien.

Die anderen Memoirentexte des Buches kommen aus öffentlichen Archiven. Die mit Abstand größte Sammlung deutsch-jüdischer Frauenautobiografien befindet sich heute im Leo Baeck Institut in New York. Zu den Beständen des Archivs zählen mehr als 150 Lebensberichte von Frauen, die den Zeitraum der letzten zwei Jahrhunderte beschreiben, wobei besonders viele Selbstzeugnisse die Jahre der Emigration von 1933 bis 1945 behandeln. Eine kleinere Sammlung deutscher und englischer Memoiren aus dem Jahr 1940 wird an der Houghton Library im U.S.-Bundesstaat Massachusetts aufbewahrt. Die Texte dieses Archivs sind das Resultat eines Preisausschreibens der soziologischen Abteilung der Harvard Universität zum Thema "Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933." Von den etwa 300 Einsendungen stammen gut ein Drittel aus der Feder deutscher Jüdinnen, darunter auch die inzwischen veröffentlichten Memoiren von Dr. Käte Frankenthal und die Arbeit der Gewinnerin des Preisausschreibens, Dr. Hertha Nathorff. Wichtig für das Verständnis dieser Lebensberichte ist der Umstand, daß die Mehrzahl der Arbeiten in der Emigration und noch vor Bekanntwerden des Nazi-Holocausts verfaßt wurde. Die dritte große Sammlung deutsch-jüdischer Memoiren befindet sich in Israel in der Bibliothek des Yad Vashem Museums in Jerusalem. Die Dokumente wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Leitung des damaligen Archivars Dr. Ball-Kaduri gesammelt und enthalten hauptsächlich Augenzeugenberichte von Überlebenden aus dem Nazi-Holocaust. In der Bibliothek befinden sich mehr als 100 Autobiografien deutschsprachiger Jüdinnen. Eine vierte, etwas kleinere "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" wird im Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien aufbewahrt. Die Sammlung steht unter der Leitung von Dr. Therese Weber und Dr. Albert Lichtblau und enthält etwa 20 Memoiren österreichischer Jüdinnen aus diesem Jahrhundert.

Von den mehr als 400 Autobiografien deutscher Jüdinnen konnte nur ein kleiner Bruchteil hier abgedruckt werden. Bei der Edition der Kapitel wurde darauf geachtet, die literarische Authentizität der Arbeiten zu bewahren, und die Quellen möglichst vollständig zu zitieren. Zum besseren Verständnis der ausgewählten Stellen wurden jedoch hin und wieder Teile eines Textes ausgelassen, wenn es sich um historische Tangenten, allzu private Erinnerungen oder inhaltliche Abschweifungen handelte. Die ausgelassenen Partien wurden jeweils durch eckige Klammern gekenntzeichnet. Übersetzungen von hebräischen und jiddischen Ausdrücken erscheinen jeweils in runden Klammern. Sprachliche Korrekturen wurden nur dann vorgenommen, wenn es sich um offensichtliche Schreibfehler oder um grammatikalische oder stilistische Unebenheiten handelte. Um dem Leser den Einstieg in die Kapitel zu erleichtern, ist jedem Text eine Einführung vorangestellt. Angaben zur Biografie der Verfasserinnen und zur Entstehungsgeschichte der Texte vermitteln den literarischen Hintergrund der autobiografischen Arbeiten. Kurze Anmerkungen am Ende der Kapitel geben Auskunft über geschichtliche Zusammenhänge, Personennamen oder geografische Anspielungen.

Nicht zuletzt möchte sich der Herausgeber bei den Autoren, deren Nachkommen und bei den Mitarbeitern der oben erwähnten Archive bedanken, die das Zustandekommen dieser Dokumentation freundlich unterstützten. Direktor Dr. Robert Jacobs, Dr. Frank Mecklenburg und Dr. Diane Spielmann vom Leo Baeck Institut in New York und Direktor Rodney G. Dennis von der Houghton Library erteilten wertvolle wissenschaftliche Auskünfte. Frau Hadassah Modlinger und Ora Alcalay vom Yad Vashem Archiv kümmerten sich tatkräftig um die Zusammenstellung der Dokumente in Teil V. Frau Lori Batten übernahm freundlicherweise die Abschrift vieler Manuskripte. Dr. Harriet Freidenreich, Dr. Albert Lichtblau und Dr. Sibylle Quack boten Rat und Hilfe bei der Beschaffung seltener Texte. Für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Zusammenstellung der Illustrationen möchte ich mich ganz besonders bei Frau Amy Lixl-Purcell bedanken. Dank gebührt auch dem Lektor des Reclam-Verlags, Herrn Dietmar Thom und den internationalen Stiftungen, die mit Forschungsstipendien die Herausgabe und Drucklegung dieses Erinnerungsbuches ermöglichten, darunter die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Robert Bosch Stiftung, die Memorial Foundation for Jewish Culture in New York, der Forschungsrat der University of North Carolina at Greensboro und die John Simon Guggenheim Memorial Foundation.

2. Die Memoirenliteratur deutsch-jüdischer Frauen seit 1900

Im Zuge der Frauenbewegung und des neuerwachten Interesses an der Sozialggeschichte des Alltags ist in den letzten Jahren eine Fülle von Biografien und Autobiografien entstanden, darunter auch zahlreiche Lebensberichte deutsch-jüdischer Frauen im In- und Ausland. Viele Jüdinnen, die das Dritte Reich überlebt und jahrelang im Zustand des Schweigens verharrt hatten, stellten sich der Frage nach dem Schicksal ihrer Geschlechtsgenossinnen mit einer neuen Dringlichkeit, die auch an der Literaturwissenschaft nicht spurlos vorübergegangen ist.[1] Was in diesen Autobiografien zum Ausdruck kommt, ist der Versuch, herkömmliche Erinnerungssmuster zugunsten einer Darstellungsweise zu überwinden, die zu einem tieferen Verständnis für die Rolle der Frauen in der deutsch-jüdischen Geschichte führte. Die Bedeutung des autobiografischen Schreibens innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung und der Frauenbewegung im besonderen leitete sich aus der Erkenntnis ab, daß der Mangel an eigener Sprache, Selbstdarstellung und Erinnerung eine Hauptform politischer Unterdrückung darstellt. Dabei stand der Wunsch im Vordergrund, das herkömmliche Verständnis deutsch-jüdischer Identität kritisch zu beleuchten und zugleich die Schicksale deutscher Jüdinnen zu dokumentieren.

Sich autobiografisch auszudrücken bedeutete für die Verfasserinnen freilich noch nicht, sich von den Scheuklappen patriarchalischer Geschichtsschreibung einfach zu befreien. Die Implikationen solcher Argumente für die Lektüre der Memoirenliteratur deutsch-jüdischer Frauen sind vielfältig. Autobiografien von Frauen sind als solche noch nicht feministisch, kritisch oder subversiv, das heißt, sie drücken keine unvermittelten Wahrheiten über Frauen aus. Ebenso falsch wäre es, diese Autobiografien dazu heranzuziehen, um eine total isolierte Frauenkultur zu rekonstruieren, oder um sie als historische Dokumente der totalen Unterwerfung zu interpretieren. Aus diesem Grund soll nicht der Versuch unternommen werden, die Erinnerungen deutscher Jüdinnen allein als authentische weibliche Stimmen der Wahrheit im Kampf gegen die historischen Zerrbilder der Frau zu lesen. Die Dokumentation soll daher nicht nur im Hinblick auf die dargestellte Wirklichkeit als autobiografische Mischung von Dichtung und Wahrheit verstanden werden, sondern vor allem als ideologiekritische Literatur innerhalb einer wichtigen Übergangsphase.

Der Einbruch der Frauen in die Memoirenliteratur dieses Jahrhunderts führte zur Darstellung alternativer Denkmodelle, die weitgehend mit der Formulierung andersgearteter geschichtlicher Erfahrungen zusammenhingen. Der eigentliche Durchbruch deutsch-jüdischer Frauenautobiografien vollzog sich in den frühen siebziger und achziger Jahren. Wirft man einen Blick auf die Zahl der Veröffentlichungen, so erkennt man die breitgestreute Rezeption dieses Genres. Seit 1970 erschienen über 120 Erinnerungsbücher jüdischer Frauen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Überwiegend waren es Memoiren bekannter Emigrantinnen, darunter Schauspieler, Künstler, Musiker, Historiker, Journalisten und Schriftsteller wie Hannah Arendt, Carola Bloch, Hilde Domin, Lotte H. Eisner, Martha Feuchtwanger, Lea Grundig, Else Lasker-Schüler, Margarete Susman, Gabriele Tergit, Salka Viertel und andere.

Was diese Autobiografien so interessant macht, ist die Tatsache, daß sie im Rahmen einer neuen sozialen und kulturellen Bewegung veröffentlicht, gekauft und gelesen werden, die um ein viel besseres Vertständnis deutscher Jüdinnen und ihrer Geschichte bemüht war. Im Gegensatz zu älteren Generationen unterscheiden sich die Autoren vor allem darin, daß sie sich mit ihren Memoiren selber an der öffentlichen Diskussion um die deutsch-jüdische Frage beteiligen. Die autobiografischen Arbeiten dieses Buches liefern Ausgangspunkte für einen kritischen Dialog mit den Vorstellungen chauvinistischen Hegemoniedenkens und neue Beiträge zur Debatte um die Sozialgeschichte deutscher Jüdinnen im 20. Jahrhundert.

Die Vielzahl der autobiografischen Strategien in diesem Buch zeigen weder Einheitlichkeit noch sind sie reduzierbar auf eine Dimension "jüdischer Frauenautobiografie" innerhalb eines singulär gehaltenen Begriffs von Weiblichkeit. Im Gegensatz zur normativen patriarchalischen Erinnerungsarbeit verdeutlichte sich erst die Notwendigkeit für Frauen mit möglichst vielen verschiedenen Stimmen zu sprechen. Deswegen wäre es auch falsch, von der Voraussetzung einer absoluten Authentizität dieser Texte auszugehen oder auf die Frage nach der Bedeutung dieser Memoiren nur eine einzigmögliche Antwort zu erwarten.

Mit dem Bewußtsein einer Verpflichtung zu feministischem Engagement kam oft der Wunsch nach Rechtfertigung des eigenen, vor allem des autobiografischen Schreibens zum Ausdruck. Bei einigen Verfasserinnen stellte sich die Frage nach der historischen Sinngebung ihres Lebens aus dem Gefühl der Vereinsamung im Alter. Bei anderen Autoren war es die bewußte Identifikation des eigenen Schicksals mit dem von vielen anderen Frauen. Dabei stand oft der Impuls im Vordergrund, sich nicht sprachlos der Vergangenheit auszuliefern, sondern den "Nachgeborenen" die Erfahrungen des eigenen Lebens zu vermitteln, sei es nun als Zeugenbericht, Anklage, Rechtfertigung, Ratschlag oder Rückblick.

Nicht um literarisches Ansehen ging es den Autoren beim Schreiben ihrer Autobiografien, Memoiren und Tagebücher. Was sie motivierte war nicht der Drang nach Verkündung beruflicher Erfolge oder philosophischer Wahrheiten, sondern vielmehr die Absicht, geschichtliche Erfahrungen auf den Begriff zu bringen und die Lehren ihres Lebens weiterzugeben. Anneliese Borinski (Kapitel 25), eine Lehrerin an der "Jüdischen Voksschule" in Berlin, widmet ihre Autobiografie aus dem Jahr 1945 dem Gedächtnis ihrer Freunde in einer Jugendgruppe des Makkabi Hazair, die im Holocaust ums Leben kam.

Es gibt sehr viel von der Arbeit und dem Leben, das wir in den letzten Jahren geführt haben, zu erzählen. ... Ich glaube, daß man einen Rechenschaftsbericht ablegen muß. Das heißt, daß ich, weil ich wohl die Einzige bin, die übrig geblieben ist und Euch jetzt erreichen kann, Euch, den verantwortlichen Kameraden, Rechenschaft ablegen muß über das, was mit unseren Menschen geschehen ist. ... Dieses Bewußtsein, daß ich einmal vor Euch treten muß, um Euch zu berichten über die Verpflichtung, die wir eingegangen sind, hat mich in den letzten Jahren aufrechterhalten und vorwärts getrieben.

Viele der Verfasserinnen äußerten die Hoffnung, daß zukünftige Geschlechter diese Lehren niemals vergessen sollten, um eine Wiederholung des Schicksals zu vermeiden. Jede Autobiografie bietet dem Leser eine eigene Auslegung der Geschichte und einen anderen Rahmen der Erinnerung. Käthe Mendels (Kapitel 5), die mit ihrer Familie den Krieg im australischen Exil überlebte, begründete 1971 das Schreiben ihrer Autobiografie wie folgt:

Ich betrachte mich nicht als Schiftstellerin, ... aber andererseits denke ich, daß unsere Nachfahren von ihren eigenen Verwandten die Geschichte ihrer Familie erfahren sollten. Daher beginne ich meine Autobiografie, indem ich über die letzten 15 Jahre in Deutschland berichte. Noch ein Grund bewegt mich, meine Erinnerungen niederzuschreiben. Ich bin mir sicher, daß uns die jüngste Generation, sobald sie erwachsen ist, die Frage stellen wird: "Wie kam es, daß Euch die Flucht gelang und so viele unserer Familienmitglieder und Freunde zurückblieben?"

Die meisten der hier vorgelegten Selbstdarstellungen zeichnen sich durch eine betont nüchtene Sprache aus, die der Welt des Alltags entspricht und realistisch den Ablauf der Ereignisse wiederspiegelt. Die geschichtliche Reflexion führte oft zum Nachdenken über die Sinngebung des eigenen Lebens, das sich am besten im literarischen Format von Zeugenberichten, Familiengeschichten oder historischen Betrachtungen ausdrücken ließ. Dabei wird das eigene Leben oft als Teil eines Kollektivs empfunden, das den einzelnen Menschen unlösbar in den geschichtlichen Gang der Ereignisse verwickelte.

3. Vom Kaiserrreich bis zur Weimarer Republik

Autobiografische Berichte folgen wie alle anderen Prosaformen gewißen Leitmotiven, die in ihrer Gesamtheit ein Bild vom Leben der Verfasserin vermitteln sollen. Wichtige historische Perioden und politische Ereignisse werden dabei oft zu Orientierungsposten, an denen die eigene Laufbahn literarisch verankert wird. Die ersten zehn autobiografischen Beiträge dieses Buches spielen in der Welt des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das Band der Erinnerungen verläuft entlang geschichtlicher Leitlinien, die mit dem kulturellen Aufschwung der Monarchie beginnen und quer durch die Krisenzeit des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Weimarer Republik im Jahr 1933 führen.

Zu Wort kommen Jüdinnen aus zionistischen, sozialistischen, und liberalen Kreisen sowie Sprecherinnen aus der Frauenbewegung und Autoren aus mehreren geografischen Regionen von der Bukowina im Südosten des Habsburgerreiches bis nach Niedersachsen im Nordwesten. Der sozialgeschichtliche Hintergrund ist ebenso unterschiedlich wie die autobiografischen Strategien der Verfasserinnen. Das breite Panorama der Erinnerungen verdeutlicht das große soziale und kulturelle Gefälle zwischen jüdischen Gemeinden in Stadt und Land, und zwischen dem deutschen und östlichen Judentum. Als Beispiel für diesen Pluralismus sei hier eine Stelle aus der Autobiografie von Julie Kaden (Kapitel 4) zitiert, an der sich die ablehnende Einstellung einer assimilierten jungen Jüdin aus Dresden gegenüber der orthodoxen Minderheit ablesen läßt.

Warum mußten denn zum Beispiel die vielen orthodoxen Juden [...] in besonderen koscheren Gasthäusern essen? Gefielen sie wirklich ihrem Gotte besser, wenn sie kein Schweinefleisch aßen, wenn das Vieh für sie in besonderer Weise geschlachtet, das Essen in getrennten Schüsseln zubereitet wurde? Warum gefielen denn wir, wie mir schien, diesem selben Gotte ebenso gut, wo wir doch zwischen "Milchern" und "Fleischern" keinen Unterschied machten und uns jedesmal nach dem Bad unsere mit Prager Schinken belegte Semmel ausgezeichnet hatten schmecken lassen?

Die Erinnerungen von Julie Kaden und Ruth Glaser (Kapitel 9) führen den Leser in das Leben emanzipierter Jüdinnen vor und nach dem Ersten Weltkrieg ein. Hier spürt man den Geist einer jungen Generation, die sich ohne Vorbehalte mit der Symbiose deutsch-jüdischer Kultur identifizierte und sich sehr aktiv am kulturpolitischen Leben ihres Heimatlandes beteiligte. Die Betonung dieses ehemaligen Zugehörigkeitsgefühls steht auch am Anfang vieler anderer Autobiographien, darunter Else Gerstels Bericht über ihre Jugend in Berlin (Kapitel 1) und die Erinnerungen von Nellie H. Friedrichs an ihre Schulzeit in Braunschweig (Kapitel 10).

Im Gegensatz zur Welt des jüdischen Bildungsbürgertums schildern die Erinnerungen von Prive Friedjung und Mischket Liebermann das religiöse Leben im ostjüdischen Ghetto. Prive Friedjungs Memoiren (Kapitel 2) beschreiben mit eindrucksvollen Farben das fromme Leben ihrer Familie in der Bukowina im heutigen Rumänien, wo ihr Vater Schächter der jüdischen Gemeinde war. Ihre Erinnerungen spiegeln die tiefe Religiösität des Ostjudentums, den starken Druck der väterlichen Autorität und schließlich die Rebellion der jungen Frau unter dem Einfluß zionistischer und marxistischer Lehren. Ein ähnlicher Ausbruchsversuch wird in der proletarischen Selbstdarstellung von Mischket Liebermann (Kapitel 8) beschrieben, die als Tochter eines ostjüdischen Rabbiners im Berliner Scheunenviertel aufwuchs. Beide Frauen nahmen in ihren Autobiografien bewußt revolutionäre Haltungen ein, die der "Milieufrömmigkeit" ihrer Umgebung diametral entgegengesetzt waren.

Eine interessante Sicht auf die Politik der Frauenbewegung bieten die Beiträge von Alice Salomon (Kapitel 7) und Rahel Straus. Als eine der ersten Ärztinnen Münchens beschreibt Rahel Straus (Kapitel 2) ihre beruflichen Erfolgen und ihrer feministischen Vortragstätigkeit in München nach der Jahrhundertwende. Die Memoiren schildern ihre Mitarbeit bei dem von Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann gegründeten "Verband für Frauenstimmrecht", beim "Jüdischen Frauenbund (JFB)" und anderen politisch und sozial orientierten Vereinen. Während die große Mehrheit deutsch-jüdischer Frauen liberalen Gruppierungen angehörte - mehr als ein Viertel aller deutschen Jüdinnen waren Mitglieder des JFB - unterstützte Straus vor allem die zionistische Bewegung. 1906 gründete sie sogar ihre eigene "jüdisch-nationale Frauengruppe", die sich aber schon ein Jahr später wieder auflöste. Mit Bewunderung kommentiert Straus die Arbeit der Wiener Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, unter deren Leitung der JFB am Ende der Zwanziger Jahre mehr als 50.000 Mitglieder zählte[2] und sich besonders in der Betreuung junger unverheirateter Mütter große Verdienste erwarb.

Im Vergleich zum ausgeprägten feministsichen Engagement in den Autobiografien von Rahel Straus und Alice Salomon schildert Käthe Mendels (Kapitel 5) die Familiengeschichte einer patriotischen jungen Angestellten im Ersten Weltkrieg. Neben den vielen Entbehrungen der Kriegsjahre kommen hier die Opfer zur Sprache, die Juden und Deutsche gemeinsam dem Vaterland darbrachten. Während der vorbildliche Einsatz deutscher Juden zum Wohl des Vaterlandes im Mittelpunkt steht, bezeugt der Text auch die zunehmende Beteiligung junger Frauen an der Wirtschaft der Monarchie.

Anders als die vaterländische Gesinnung in der Autobiografie Käthe Mendels kommt in den Erinnerungen von Mathilde Jacobs das tiefe Unbehagen an der Politik ihrer Zeit zum Ausdruck. Das Gemetzel des Krieges und die infernialischen Materialschlachten vor Verdun zertrümmerten hier das Ethos der Pflichterfüllung für Kaiser und Vaterland. Mathilde Jacobs "Erinnerungen an Rosa Luxemburg" (Kapitel 6) stammen aus der Feder einer Berliner Rebellin, die sich während des Krieges bewußt auf die Seite der Arbeiterschaft gestellt hatte, und deren Kampf für eine sozialistische Republik unterstützte. Im Hintergrund dieses autobiografischen Berichts zeichnen sich bereits gefährlich die Konturen der deutsch-nationalen Bewegung nach Ende des Krieges ab. Die militärische Niederlage der Mittelmächte führte nämlich 1918 nicht nur zur Auflösung des deutschen Kaiserreiches und zu revolutionären Aufständen in fast allen Großstädten Deutschlands, sondern auch zu einer deutlichen Verschärfung des Antisemitismus.

Nationalisten und völkische Rassenhetzer, denen die liberalen, sozialistischen und pazifistischen Anschauungen vieler deutscher Juden von vornherein ein Dorn im Auge waren, entfalteten in den Nachkriegsjahren eine zügellose antisemitische Propaganda. Sie brachten die These in Umlauf, daß sowohl der Verlust des Krieges als auch die darauf folgende Revolution eine Verschwörung des Judentums war, das der deutschen Armee in den Rücken fiel. Diese sogenannte Dolchstoßlegende fand besonders im faschistischen Lager viele Nachbeter, die das Judentum damit zum Sündenbock für alle Nachkriegswirren stempelten. [3]Im Verlauf der einsetzenden Arbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Niedergangs der Weimarer Republik kam es zu einer starken antisemitischer Propaganda im Umfeld der Faschisten. Die nationalsozialistische Wahnvortsellung, daß die Juden Deutschlands Unglück seien fand nach 1929 mehr und mehr Anhänger.

Viele autobiografische Berichte aus den späten Zwanziger Jahren enthalten Hinweise auf den wachsenden Antisemitismus der Republik, doch nur wenige Autoren weisen diesen Erlebnissen große politische Bedeutung bei. Die Gefahr lauerte im Hintergrund, wurde aber als solche nicht bewußt registriert. "Die Jahre bis zu meinem 13. Geburtstag (1933) verliefen normal" heißt es in den "Erinnerungen an Düsseldorf" von Ruth Glaser (Kapitel 9) und die Braunschweiger Studentin Nellie H. Friedrichs (Kapitel 10) erinnert sich an ihren "unverantwortlichen Leichtsinn" inmitten des politischen Verfalls der Weimarer Republik. Stellvertretend für die Einstellung vieler Jüdinnen schrieb Alice Salomon (Kapitel 7) im Jahre 1940:

Viele meiner Freunde haben sich inzwischen gefragt, "haben wir nie bemerkt, daß wir am Rande eines Vulkans lebten, der jederzeit auszubrechen drohte?" Nein, ich glaube nicht, daß viele Menschen daran dachten, ich selbst miteingeschlossen. [...] Wir lebten in einer gefährlichen Zeit und hatten unsere Verantwortung für die Republik nicht genügend begriffen. Für diese kollektive Schuld haben wir teuer bezahlt.

4. Faschismus, Exil und Holocaust

Die Erinnerungen deutscher Jüdinnen aus der Zeit des Nazismus lassen sich in drei größere Untersuchungsfelder mit folgenden Schwerpunkten gliedern: Verfolgung und Vertreibung, Leben im Exil, und der Holocaust. Der Aufbau der Kapitel in Teil III, IV, V folgt dieser Dreiteilung deutsch-jüdischen Frauenautobiografien. In den Abschnitten überwiegen zahlenmäßig die Erinnerungen von Emigrantinnen, die ihre Arbeiten nach dem Krieg verfaßten.

Autobiografien, die vor 1933 geschrieben wurden, zeigen eine deutlich andere Struktur als solche, die während und nach dem Faschismus entstanden. Programmatisch für die Thematik vieler nach 1933 verfaßten Arbeiten steht Hertha Paulis "Erlebnisbuch" mit dem Titel "Der Riß der Zeit geht durch mein Herz". Die Epoche des Faschismus zerschnitt nicht nur die historsichen Rollenmodelle deutsch-jüdischer Identität, sondern den Lebenszusammenhang aller Beteiligten. Während die Selbstdarstellungen älterer Generationen das Bild einer selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Heimat vermitteln, signalisieren die Erinnerungen aus der Zeit des Faschismus das Ende jüdischen Lebens in Deutschland. "Eine Welt war über mir zusammengestürzt. Eine gänzlich neue Welt ist im Entstehen," heißt es bei der 27-jährigen Margot Bloch-Wresinski, deren Autobiografie die Flucht aus Deutschland und den Neubeginn in Palästina beschreibt (Kapitel 11).

Der Bruch mit der Vergangenheit erfolgte im Januar 1933. Mehr als 20.000 Jüdinnen verließen ihre Heimat in den ersten zwei Jahren der faschistischen Diktatur als es immer deutlicher wurde, daß nur durch eine schnelle Emigration dem Nazi-Terror zu entkommen war. Bereits am 1. April 1933 organisierten SA und SS Truppen großangelegte Spektakel und Massendemonstrationen, die neben der Verbrennung 'undeutscher' Bücher den Boykott und Bankrott jüdischer Firmen und Geschäfte zum Ziel hatten (siehe Abbildung 9). Die Politik der Nationalsozialisten stützte sich dabei auf die rückwärtsgewandten, völkischen Ideale des Antikapitalismus, Antikommunismus und Antisemitismus, wobei es den Nationalsozialisten gelang, die Mehrzahl der Wähler für ihre Ideologie zu gewinnen, darunter viele christliche Akademiker, Anwälte, Künstler, Handwerker, Angestellte, Journalisten und Vertreter der Kirchen. Diese desolate geistige und moralische Einstellung kennzeichnet die Haltung breiter Bevölkerungsschichten[4] im NS-Staat während der gesamten Periode des Faschismus.

Im Frühjahr 1935 begann die zweite Welle der Verfolgung und Vertreibung, die im September zur Verkündigung der Nürnberger Gesetze zum sogenannten "Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" führte. Ziel der Gesetzgebung war die Kennzeichnung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung im Dritten Reich. Der Diskriminierung folgte die gezielte Ausschaltung aller Juden aus dem Wirtschaftsleben, wobei jüdisches Eigentum vom Staat konfisziert wurde. Die dritte Phase des faschistischen Feldzuges gegen das deutsche Judentum begann 1938 nach dem Anschluß Österreichs an das Dritte Reich. Höhepunkt der Aktionen vor Ausbruch des Krieges bildete die Kristallnacht mit der systematischen Zerstörung jüdischer Geschäfte, Wohnhäuser und Synagogen am 9. November 1938 .

Der Pogrom führte zur Vernichtung von mehr als 1000 Tempeln und zur Verhaftung von etwa 25-30.000 jüdischer Männer (siehe Abbildungen 11, 12). Auf Verhaftung und Terror folgte eine Flut gesetzlicher Verordnungen, die ebenso sadistisch wie absurd waren. Man warf den jüdischen Gemeinden vor, selber Schuld an den Ausschreitungen zu tragen und erlegte ihnen zur Strafe die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auf.

Die Nazi-Bürokratie war ebenso gründlich wie skrupellos. Diese inhumane Mischung aus Ordnungsliebe und Brutalität, Pflichtbewußtsein und Sadismus erwies sich als gefährliche Waffe, die Hoffnung, Verwirrung und Zerstörung stiftete. Es war diese Koppelung von Verbrechertum und Rechtsstaatlichkeit, welche den Betroffenen alle Rettungswege abschnitt und nur die Wahl zwischen Emigration und Deportation offen ließ. In der verdrehten Logik der Faschisten zeichnete sich eine gefähriche Variante ab, die besonders gegen die weiblichen Angehörigen der Verhafteten gerichtet war. Nach dem Pogrom wurden viele Ehefrauen dazu gezwungen, sich der Gestapo als Bürgen zur Verfügung zu stellen und die Auswanderung ihrer Familien einzuleiten. Dies allein bewirkte die Freilassung der Männer und sicherte den Familien das Geleit aus Deutschland. Der Einsatz dieser Frauen bewirkte die Rettung Tausender Männer aus den Konzentrationslagern und führte zu einem Massenexodus kurz vor Ausbruch des Krieges.

Trotz der gemeinsamen Flucht vieler Ehepaare zeigte sich im Verlauf der Dreißiger Jahre eine Verschiebung der Statistik [5] zwischen Frauen und Männern in der jüdischen Bevölkerung. 1933 war das Verhältnis 110 zu 100. Sechs Jahre später hatte sich die Zahl der Frauen um 25% vermehrt und zwar auf 135 zu 100. Die weitaus größere Zahl der Frauen in der Bevölkerung läßt darauf schließen, daß mehr alleinstehende Männer als Frauen den Weg in die Emigration fanden, mehr Witwen in Deutschland verblieben und folglich mehr Frauen als Männer im Holocaust ums Leben kamen.

Selbst nüchterne Beobachter der politischen Lage konnten sich 1933 jedoch noch kein Bild verschaffen vom wahren Ausmaß der Tragödie, die da im Entstehen war. Es ist wichtig, sich heute, ein halbes Jahrhundert nach Ende des Faschismus, daran zu erinnern, daß es damals keine historischen Parallelen gab, die zur Beurteilung der Lage hätten herangezogen werden können. Niemand konnte Anfang der Dreißiger Jahre vorhersagen, daß sich das Dritte Reich zu einem Verbrecherstaat verwandeln würde, der den Tod von mehr als 50 Millionen Kriegsopfern und mehr als sechs Millionen Juden verschulden würde. Was wir heute über die Untaten des Faschismus wissen, lag außerhalb der historischen Vorstellungskraft und überstieg selbst die allerschlimmsten Vorahnungen.

Der Strom der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich führte vor Ausbruch des Krieges zu einem Asylnotstand ungeahnten Ausmaßes (siehe Abbildungen 16, 17). Selbst nach der geglückter Flucht ins Exil spürten viele Vertriebene noch den langen Schatten des Faschismus, da in Kriegszeiten jeder Ausländer von vornherein suspekt schien. Margarete Stern (Kapitel 22) gelang kurz vor Schließung der Grenzen die Flucht ins Exil. Über ihre Erlebnisse in den Philippinen berichtet sie:

Ich wurde von den Japanern durch eine Kette von unseligen Umständen verhaftet, nicht als Jüdin, sondern weil sie mich [...] für eine amerikanische Spionin hielten. Ich wurde in die Kasematten des berüchtigten Fort Santiago gebracht [...] Über die Torturen und Qualen dieser Zeit möchte ich hier nicht sprechen, außer daß mehr als 90 Prozent der Menschen in Fort Santiago die Haft nicht überstanden.

Wie bei vielen Verfasserinnen liegt die Betonung nicht auf der Bedrohlichkeit und Einsamkeit des Exils, auch nicht auf Bitterkeit, Zynismus oder Resignation inmitten einer hoffnungslosen Lage. Die Schwerpunkte der Erinnerung liegen vielmehr auf der Darstellung menschlicher Stärken und Schwächen inmitten eines unmenschlichen Krieges. Sachlichkeit und humanistisches Denken, nicht Zynismus und bittere Anklage gegen ihre Zeitgenossen bestimmen den Erinnerungsgehalt der Autobiografien. Wo keine metaphysischen Erklärungen das Unheil der Geschichte verständlich machen können, betonen die Autoren die Menschlichkeit derer, die ihnen das Überleben leichter machten. "Daß ich im Leben überhaupt noch an das Gute glauben konnte, lag daran, daß ich so viele gute Menschen kennengelernt habe", erinnert sich Margarete Susman in ihrer Autobiografie "Ich habe viele Leben gelebt".

Der Versuch, den Ring des Leidens und des Schweigens zu durchbrechen, führte Bei vielen Autoren zu einer humanistisch-feministischen Grundhaltung, die das ganze Genre der Erinnerungsliteratur durchzieht. Gegen die Gewalttätigkeit der Geschichte zeichnen sich die Autobiografien dieser Periode durch eine betonte Nüchternheit und Sachlichkeit der Darstellung aus.

Die Herausbildung autonomen und kritischen Denkens läßt sich vor allem in den Berichten von Elisabeth Bamberger (Kapitel 16), Charlotte Sachs (Kapitel 18) und Hertha Beuthner (Kapitel 21) erkennen, die jahrelang in der Isolation des Exils lebten. Die Verfasserinnen tasten sich schreibend voran zu einer neuen Identität abseits traditioneller Bindungen. Handlungsmuster, die in der Heimat als eigensinnig, revolutionär, oder provokativ gegolten hatten, wurden im Exil zum Anker des Überlebens. Realismus, Nüchternheit und ein neues Selbstbewußtsein suggerieren eine Gefühlswelt ohne patriarchalische Erwartungen. Geleitet vom eigenen Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen gelangten viele Frauen zu einer neuen Selbstachtung, die nicht selten zum politischen Aktivismus führte. Als Beispiele aktiven sozialen, kulturellen und politischen Engagements sei vor allem auf die Beiträge von Senta Meyer-Gersteins (Kapitel 20) und Anna Seghers (Kapitel 31) hingewiesen.

Trauerarbeit, der Einsatz im politischen Untergrund und das Nachdenken über Geschichte umschreiben den politischen Kontext der Memoiren aus dem dunkelsten Kapitel deutsch-jüdischer Autobiographik, den Erinnerungen an den Holocaust. Weniger als 8000 deutsche Juden überlebten den Völkermord. Ihnen verdanken wir Einblick in den geschichtlichen Verlauf der Katastrophe. Ab 1940 kam es zu einer tiefgreifenden Umorientierung der faschistischen Rassenpolitik. Anstatt gezielter antisemitischer Aktionen, die allesamt die Vertreibung der Juden aus dem Dritten zum Ziel gehabt hatten, beschloß die SS nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein genau ausgearbeitetes Programm zur Vernichtung des Judentums. Dem Krieg nach außen folgte der Krieg nach innen. Eine gigantische Maschinerie der Deportation und Vernichtung kam ins Rollen, der bis 1945 mehr als [6] Millionen Juden aus ganz Europa zum Opfer fielen.

Das Trauma des Überlebens inmitten eines genau geplanten Genozids zeichnet sich ab in den Erinnerungen von Else Meyring (Kapitel 23), Anneliese Borinski (Kapitel 25), Lucie Begov (26) und Klara Caro (Kapitel 27). Beim Lesen der Kapitel tritt vor allem die genaue Schilderung des Nazi-Systems und dessen unmenschlicher Bürokratie zu Tage. Erschütternde Beispiele jüdischer Heroik im antifaschistischen Kampf finden sich im Beitrag von Charlotte Holzer (Kapitel 24), die von der Arbeit der Herbert-Baum-Gruppe in Berlin Zeugnis ablegt. Zwei Berichte aus Konzentrationslagern stammen von Lucie Begov (Kapitel 26) und Klara Caro (Kapitel 27), die 1945 mit Hilfe eines Rot-Kreuz-Rettungstransport in die Schweiz gerettet wurde.

Die Kapitel konfrontieren den Leser mit beklemmend authentischen, traurigen und eindringlichen Bildern aus der Vergangenheit. Die Nüchternheit und der unbequeme Humanismus dieser Prosa mag zum Teil die verzögerte Rezeption der Texte erklären.

5. Autobiografisches nach 1945

Im letzten Abschnitt des Buches geht es um Erinnerungen deutsch-jüdische Frauen aus der Zeitspanne 1945-1990. Die Beiträge stammen von Autoren, die sich entweder im Ausland ein neues Leben aufbauten oder in die alte Heimat zurückkehrten. Im besetzten und geteilten Deutschland kam es nach dem Holocaust zu einem zaghaften Neubeginn jüdischen Lebens. Zu den wenigen in Deutschland verbliebenen Juden kam eine größere Anzahl Überlebender, die von den Alliierten aus den zahlreichen Konzentrationslagern innerhalb des Dritten Reiches befreit worden waren. Die Mehrheit dieser Juden kehrte entweder in ihre alte Heimat zurück oder ging in die westlichen Gebiete Deutschlands, um dort auf die Weiterfahrt nach Palästina oder die Einreise in andere Länder zu warten.6 Insgesamt kam die Rückkehr der Emigranten und der Überlebenden des Holocausts nur zögernd zustande. Denkt man an die rund halbe Million deutscher Juden in der Weimarer Republik, so zeigt sich, daß die Zahl der heute in Deutschland lebenden Juden etwa 10% der Bevölkerung vor 1933 ausmacht.

Die Trauer um die Opfer des Faschismus, der Verlust der alten Heimat und der Wunsch, sich der Geschichte nicht sprachlos auszuliefern, bewegten viele Autoren zur Abfassung ihrer Memoiren. Dazu kam der Dank der Geretteten und die Verpflichtung, jüngeren Generationen ein Bild zu verschaffen vom Leben und Überleben nach dem Holocaust. Nelly Sachs (Kapitel 28), deren Familie in Nazi-Konzentrationslagern ermordet wurde, brachte in ihrem autobiografischen Gedicht "Chor der Geretteten" die Gefühle der Überlebenden zum Ausdruck. Ihr Anliegen, das "ertrunkene Wort" auferstehen zu lassen, spiegelt den Neubeginn jüdischen Lebens nach der Sintflut. Das zentrale Motiv ihrer Lyrik ist der Tod und seine metaphysische Überwindung durch Sprache. Nelly Sachs erhielt 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und ein Jahr später den Nobelpreis für Literatur.

An die Nachgeborenen ist auch die Autobiografie von Frieda Hirsch (Kapitel 29) gerichtet, die ihre "Chronik" für die "lieben Kinder, Enkel, Geschwister und Freunde" in Israel schrieb. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den konfliktgeladenen politischen Gegebenheiten des Nahen Ostens meisterte die Verfasserin schnell die Umstellung auf die neue Sprache und das herbe Leben des Landes. Mit großer Genugtuung stellte Hirsch später fest, daß "in nur wenigen Tagen aus der schüchternen Dame eine energische Frau geworden" war. Das Kapitel beschreibt die Erinnerungen der 57-jährigen Mutter gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ihre Euphorie über den Friedensschluß, aber auch die bittere Enttäuschung über den Ausbruch neuer Kämpfe zwischen Juden und Arabern im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948.

Im Gegensatz zu den Frauenautobiografien früherer Perioden, die sehr stark an geschichtlichen Leitlinien orientiert waren, zeigt sich nach 1945 eine vom Weltgeschehen eher unbelastete Sehweise. Zwar werden geschichtliche Ereignisse wie die Staatengründung der BRD, DDR und Israels, der Tod Stalins oder die Studentenrevolten Ende der Sechziger Jahre zu deutlichen Markierungspunkten, doch die Schwerpunkte der Erinnerung gruppieren sich vor allem um berufliche oder private Erfahrungen. Familengeschichten, Liebeserlebnisse, Reisen, Begegnungen und die Arbeitswelt rücken dabei in den Mittelpunkt. In Anlehnung an diese autobiografischen Leitlinien vermittelt der letzte Teil des Buches ein Panorama deutsch-jüdischen Lebens nach dem Krieg, das vom Neubeginn in der Emigration und in Israel bis zur Wiederentdeckung der deutschen Heimat führt.

Charlotte Pick, eine geborene Münchnerin, der Ende 1939 die Flucht in die Vereinigten Staaten geglückt war, beschreibt ihre Eindrücke bei einer Reise durch Deutschland (Kapitel 30). Ihr Kapitel zeigt die Konturen der inneren Entwurzelung und die tiefe Trauer über den Verlust ihrer Freunde und Verwandten in der NS-Diktatur. In einem Nachwort zu ihrer Autobiografie mit dem Titel "Die verlorene Heimat" erklärte die Verfasserin die Beweggründe ihrer Erinnerungsarbeit wie folgt:

Der Leser wird sich vielleicht fragen, warum ich heute, nach 25 Jahren Leben im Ausland diese Erinnerungen niederschreibe. [...] Diese Erinnerungen wurden mit einer gewißen Absicht geschrieben. Sie sollen beweisen, daß sogar diejenigen, die sich retten und ein neues Leben aufbauen konnten, schwer gelitten haben [...] Ich kann gerade jungen Deutschen nicht eindringlich genug zurufen: "Seid tolerant, denkt was für namenloses Unglück durch künstlich angefachten Haß, Lüge und Verleumdung angerichtet wurde. Kämpft gegen Vorurteile!"

Auch bei der Emigrantin Anna Seghers (Kapitel 31) finden sich ähnliche Überlegungen, wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen. Seghers kehrte kurz nach dem Krieg in die sowjetische Besatzungszone zurück und beteiligte sich als überzeugte Kommunistin tatkräftig am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik. Von 1952 bis 1978 war sie Vorsitzende, danach Ehrenpräsidentin des DDR-Schriftstellerverbands. Ihr Beitrag mag hier stellvertretend für den Großteil der antifaschistischen Exilautoren wie Bert Brecht, Willi Bredel, Johannes R. Becher, Ludwig Renn, Friedrich Wolf, Arnold Zweig, und andere stehen, die in die DDR gingen und dort den Aufbau einer sozialistischen Kultur ins Auge faßten. Ihrer Arbeit lagen dabei jene Leitlinien zugrunde, welche die Sozialisten und bürgerlichen Humanisten im Zuge der Volksfrontpolitik bereits in den Dreißiger Jahren gefordert hatten. Kapitel 31 enthält die Wiedergabe einer Rede von Anna Seghers aus dem Jahr 1954 anläßlich neuer Wahlen zur Volkskammer der DDR. In dem Vortrag, den sie vor jungen Arbeitern in Berlin hielt, kommt Seghers auf ihre Motive als Schriftstellerin zu sprechen, die sie Ende 1946 bewogen, aus Mexiko nach Deutschland zurückzukehren. Als sich Anna Seghers dem zerstörten Deutschland und den innerlich zerstörten deutschen Menschen gegenübersah, stellte sie sich die Frage was geschehen mußte, damit "das Grauen nie mehr wiederkommt?" In ihren Schriften gab sie sich selbst und ihren Zeitgenossen die Antwort:

Das war der Augenblick, in dem die deutschen Schriftsteller auf den Plan treten mußten, um so klar wie möglich Rede und Antwort zu stehen. Durch die Mittel ihres Berufes mußten sie helfen, ihr Volk zum Begreifen seiner selbstverschuldeten Lage zu bringen und in ihm die Kraft zu einem anderen, einem neuen friedvollen Leben zu erwecken.

Daß eine humanere Form menschlichen Zusammenlebens nicht durch eine bloße Veränderung der Staatsform zu erreichen war, sondern von der Mitarbeit jedes einzelnen abhängig war, wußte Seghers sehr genau. Deswegen wollte sie den "einzelnen Menschen wieder einsetzen mit seinen Gefühlen und Leidenschaften, mit seinen persönlichen Bindungen in der Liebe, Freundschaft der Familie." Ihr selber war das Konzept, mit den Mitteln der Literatur Bewußtsein und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, von ihrer Arbeit her vertraut. Seghers betrachtete sich dabei als "Aufschreiberin" von Geschehnissen, als Geschichtsschreiberin, die objektiv darstellt, wie es zu bestimmten Ereignissen kommen konnte und was daraus jeweils zu folgern war. In diesem Sinn wollte sie durch klare Tatsachen überzeugen und beitragen zur Überwindung von Unmenschlichkeit und Unterdrückung.

Die Rückwanderung bekannter Schriftsteller, Künstler und Politiker nach Deutschland trug wesentlich bei zum Wideraufbau des kulturellen Lebens und zur politischen Legitimation beider deutscher Staaten nach dem Krieg. Besonders im Ausland wurde im Sinne des Potsdamer Abkommens der Erfolg der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands an der Übernahme der moralisch-politischen Verantwortung für die NS-Verbrechen gemessen. Obwohl die DDR anders als die BRD keine Wiedergutmachung an jüdische NS-Opfer im In- und Ausland zahlte, konnten Juden in der DDR als "Verfogte des Faschismus" auf eine großzügige Unterstützung durch den Staat rechnen. Die Wiedergutmachung war zweifellos ein Instrument, das die Voraussetzungen für die BRD schuf, um als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft der Westmächte aufgenommen zu werden. Wiedergutmachung half nicht nur bei der Wiederherstellung der deutschen Selbstachtung, sondern trug auch dazu bei, das verlorene Ansehen Deutschlands in der Welt wiederherzustellen. Die Förderung jüdischen Lebens in Deutschland wurde damit zu einem Maßstab des neuen demokratischen Bewußtseins. [7] (& Wunden, Julius Schoeps, Die Last der Geschichte, S. 80).

Die Problematik der "deutschen Frage" und die Einstellung der jungen Generation zur NS-Vergangenheit ist das Thema des Beitrags von Rosemarie Silbermann (Kapitel 32). Die Verfasserin wurde 1922 in Berlin geboren und wanderte zusammen mit ihren Eltern 1934 nach Palästina aus. Ihr autobiografischen Bericht "Denk' ich an Deutschland" behandelt den Wandel im Selbstverständnis der jungen Generation im Verlauf der Studentenrevolten Anfang der Siebziger Jahre in der BRD. Silbermanns Aufzeichnungen entstanden nach einem Besuch bei deutschen Freunden und Kollegen in München. Die Zusammenkunft war überschattet vom Terroranschlag palästinensicher Kommandos auf die israelische Olympiamannschaft, dem Deutsche und Israelis gemeinsam zum Opfer fielen. An der Betroffenheit und Anteilnahme ihrer Freunde erkannte die Verfasserin einen historischen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Deutschen und Juden. "Ich hatte eine gemeinsame Sprache mit der jungen Generation Deutschlands gefunden." Der autobiografische Aufsatz klingt mit dem Hinweis auf ein neuempfundenes Zugehörigkeitsgefühl aus, in dem die Zuversicht zum Ausdruck kommt, daß sich in Deutschland die Vergangenheit nicht wiederholen wird. Daraus schöpft die Verfasserin die Hoffnung auf eine bessere Verständigung der Völker, an der sie "vielleicht sogar teilhaben könnte als Deutsche."

Der letzte Beitrag stellt eines der interessantesten Kapitel deutsch-jüdischer Frauenautobiografik aus der Gegenwart vor. Die Arbeit entstand kurz vor dem Fall der Berliner Mauer 1989 in der DDR und behandelt den Prozeß der Abkehr einer jüdischen Kommunistin vom Marxismus-Leninismus ostdeutscher Prägung. Der Mut, die Intelligenz und das kritische Selbstbewußtsein Salomea Genins spiegelt sich in der Offenheit ihrer Sprache aber auch im Durchbrechen vieler historischer Klischees.

Wichtig für das Verständnis des Kapitels sind neben geschichtlichen Ereignissen wie der innerdeutsche Mauerbau 1961 und der israelisch-arabische 6-Tage Krieg 1967 vor allem die Vorgänge kurz nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, als sich in der SED-Führung eine antizionistische und pro-palästinensische Einstellung durchsetzte. 1952 bis 1953 folgte eine Periode stalinistischer Verfolgungen und Verhaftungen, die eine deutlich antizionistische Zielrichtung zeigten. Nach antisemitischen Prozessen in der Sowjetunion im Anschluß an eine angebliche Verschwörung jüdischer Ärzte gegen Stalin und nach einem ähnlichen Tribunal in der Tschechoslowakei kam es auch in der DDR zu einer Welle antisemitischer Beschuldigungen. Allein im Januar 1953 flohen daraufhin über 400 Juden von der DDR in den Westen, darunter viele führende Mitglieder[8] jüdischer Gemeinden. Viele der Umsiedler aus der DDR in den Westen waren den Staatsorganen der DDR suspekt erschienen, weil sie Kontakte zu amerikanischen Hilsfsorganisationen aufrecht erhielten und mit dem kapitalistischen Westen assoziiert waren. Die innerdeutsche Emigrationswelle kam zum Stillstand, als drei Monate nach Stalins Tod 1953 in der DDR eine Beruhigung des antisemitischen Klimas eintrat und es zu einer Rehabilitierung der Jüdischen Gemeinden kam. Was blieb war jedoch der militante Antizionismus in der Innen- und Außenpolitik der DDR.

Salomea Genins autobiografischer Bericht beschreibt das soziale Klima in den Jahren des Kalten Krieges und die oft unterschwelige Berührungsangst vieler Bürger gegenüber den "Verfolgten des Faschismus", der jüdischen Bevölkerung der DDR. Eine Linksintellektuelle, die sich so wie Genin in ihrer Lebensführung kaum von der Umgebung unterschied aber dennoch darauf bestand, offizielle Tabus zu hinterfragen, konnte sich trotz aller Solidarität nur schwer verständlich machen. Als praktizierende Jüdin war sie zwar Teil einer geachteten Minderheit, stand jedoch außerhalb des öffentlichen Lebens. Dazu heißt es in ihrer Autobiografie:

Und wenn ich das bisher nicht bemerkt hatte, dann weil ich durch meine Vergangenheit Narrenfreiheit besaß. Immer deutlicher wurde mir, daß die Betroffenheit, die mein Jüdisch-sein auslöste, zwar zur Abwendung führte, gleichzeitig aber ein Schutzschild war, das mich unantastbar machte.

Genins zunehmend kritisches Verhältnis zum sterilen Obrigkeitsdenken innerhalb des Staates führte Anfang der siebziger Jahre zu häufigen Auseinandersetzungen mit SED-Funktionären und Genossen. Auf der Suche nach anti-autoritären Denkmodellen fand Genin jedoch nicht nur neue Muster der Vergangenheitsbewältigung, sondern auch ein neues Verständnis für das Erbe des Judentums. Die Einsicht, daß man aus der Geschichte nicht aussteigen kann, nicht als Frau, nicht als Jüdin und nicht als Deutsche mündet somit in die Frage, ob Deutschland nach der Vereinigung von Ost und West ein Ort für Juden bleiben wird? Genins Bericht legt Rechenschaft ab über ihren Prozeß der Selbstfindung als gläubige Jüdin in der DDR und endet mit einem zuversichtlichen Zitat aus ihrem neuerworbenen Gebetsbuch: "Dies gehört Salomea Genin, die im Jahr 5747 zwischen Rosch Haschana (Neujahrstag 1986) und Jom Kippur (Versöhnungstag) in den Schoß der Familie zurückkehrte.

Die Neufassung der jüdischen Identität ermöglichte der Verfasserin nicht nur eine realistische Einschätzung der kulturpolitischen Lage der DDR, sondern auch eine kritische Distanz gegenüber staatlich vorgefaßten jüdischen und weiblichen Rollenmodellen. Der Glaube an die Möglichkeiten neuer Denk- und Lebensweisen führte Genin und andere Autoren zu einer neuen Schreibweise mit betont feministischen Inhalten. Diese Akzentuierung des Andersseins konnte sowohl zu politischem Engagement führen als auch bislang verdeckte Persönlichkeitsstrukturen freisetzen.

Humanistisches Erinnern und feministisches Denken ergänzen sich bei Salomea Genin aber auch in den Beiträgen von Charlotte Pick (Kapitel 30), Rosemarie Silbermann (Kapitel 32) und vielen anderen Verfasserinnen, die den Leser zur aktiven Teilnahme auffordern. Angesiedelt im literarischen Feld zwischen Realismus und Feminismus ermöglichen diese Autobiografien eine kritische Neubestimmung überlieferter Präsentationsformen weiblicher, jüdischer und deutscher Identität. Im Unterlaufen stereotypischer Vorstellungen tragen die Texte dieses Buches damit zu einem tieferen Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart deutsch-jüdischer Frauen, und damit der Geschichte des deutschen Judentums insgesamt bei.

1 Vgl. dazu Irene Runge, "Zur jüdischen Selbstfindung auf deutschem Boden" in Blätter für deutsche und internationale Politik (August 1990), Renate Wall, Verbrannt, verboten, vergessen. Kleines Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1933- 1945 (Köln 1989), Charlotte Ueckert-Hilbert, "Senta Meyer-Gerstein. Eine Hamburger Jüdin in der Emigration" in Hamburger Zustände, Band 1 (Hamburg 1988), Andreas Lixl-Purcell, Women of Exile. German-Jewish Autobiographies Since 1933 (New York 1988), Biddy Martin, Andreas Lixl, "Zur Politik persönlichen Erinnerns. Frauenautobiographien um die Jahrhundertwende" in Vom Anderen und vom Selbst, hrsg. von R. Grimm und J. Hermand (Königstein/Ts. 1982). Siehe auch die autobiografischen Forschungsprojekte von Harriet Freidenreich (Temple University), Katherine Morris, "Memoiren aus dem Exil. Deutsche Jüdinnen in Brasilien" (Vortrag der Friedrich Ebert Stiftung) und Sibylle Quack, "Alltag und Emigration. Deutsch-jüdische Frauen in New York" (Deutsches Historisches Institut).

2 Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938. Hamburg 1981, S. 24.

3 Franz J. Bautz (Hrsg.). Geschichte der Juden. München 1989, S, 160.

4 Vgl. dazu Werner Hoffmann, "Von der Ausgrenzung zum Pogrom" in Offene Wunden, brennende Fragen. Juden in Deutschland von 1938 bis heute. Hrsg. von G. Gorschenek. Frankfurt 1989, S. 34.

5 Monika Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945. Stuttgart 1982, S. 61. Vgl. auch Sybil Milton, "Women and the Holocaust" in When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany. Hrsg. von R. Bridenthal, A. Grossmann und M. Kaplan. New York 1984, S. 301.

6 Helmut Eschwege, "Die jüdische Bevölkerung der Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands auf dem Gebiet der DDR bis zum Jahre 1953" in Juden in der DDR. Geschichte, Probleme, Perspektiven. Hrsg. von S. Th. Arndt, H. Eschwege, P. Honigmann, L. Mertens. Sachsenheim 1988, S. 64.

7 Vgl. Michael Wolffsohn, "Thesen zum deutsch-jüdisch-israelischen Verhältnis" und Julius H. Schoeps, "Die Last der Geschichte. Zur Situation der Juden in der Bundesrepublik heute" in Offene Wunden, brennende Fragen. Juden in Deutschland von 1938 bis heute. Hrsg. von G. Gorschenek. Frankfurt 1989.

8 Lothar Mertens, "Juden in der DDR" in Deutschland Archiv, 19. Jahrgang (November 1986), S. 1192.


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